„Pflege kann viel zur Integration von Geflüchteten beitragen“
Interview mit Jürgen Graalmann, Sprecher des Deutschen Pflegetags Kann man mit Kräften aus dem Ausland tatsächlich den Fachkräftemangel verhindern?
Graalmann: „Ich bin weit davon entfernt, die berufliche Integration von Geflüchteten als einfache Lösung für den Fachkräftemangel im Bereich Pflege zu sehen. Aber ich begreife die Situation vor allem als Chance für die Pflege. Uns fehlen in Deutschland heute schon in großem Umfang professionell Pflegende und der Bedarf wird infolge der Demografie weiter rasant wachsen: Bis 2030 wird ein zusätzlicher Bedarf von bis zu 500.000 Vollzeitkräften prognostiziert. Daher brauchen wir sicher sowohl einen besser vernetzten Versorgungsmix aus professioneller Pflege, ehrenamtlicher Pflege, niedrigschwelligen Angeboten als auch nachbarschaftlichem und familiärem Engagement. Aber das allein wird vermutlich nicht reichen. Denn es gibt seit einigen Jahren schon große Anstrengungen, Pflegekräfte aus anderen Ländern abzuwerben.
Ich betrachte es sogar als zwingend, das schlummernde Potenzial im Kreis der Migranten zu entdecken, d. h. ausbildungsbereite Menschen zu identifizieren. Mit guten Konzepten können wir nicht nur einen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels leisten, sondern auch zu ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Integration."
Welche Herausforderung sehen Sie in Bezug auf Migranten und den Pflegeberuf konkret?
Graalmann: "Derzeit steht vielfach noch die notdürftige Unterbringung und medizinische Versorgung von Flüchtlingen im wahrgenommenen Fokus. Wir brauchen aber zwingend auch Konzeptionen zur Integration der Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und dauerhaft hier bleiben werden. Dazu gehören auch gute Ansätze für berufliche Perspektiven. Die Pflege sucht dringend professionelle Fachkräfte und ist zugleich bestrebt, ihre Reputation, die sie sich gerade als eigenständige Profession aufbaut, zu stärken. Ich rate gerade deshalb zu einem selbstbewussten und offensiven Umgang mit dem Thema Fachkraftperspektiven für Flüchtlinge.
Ich denke, dass wir was Lösungsansätze betrifft, in der Pflege weiter sind als in der Medizin: Die Bundesärztekammer hat die Regelungen im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz im Herbst 2015 abgelehnt, wonach Asylbegehrende, die über eine abgeschlossene medizinische Ausbildung verfügen, den behandelnden Arzt vorübergehend unterstützen sollen. Dabei ist das doch sinnvoll. Im Pflegebereich gibt es bereits seit einigen Jahren Modellprojekte für die spezielle Qualifizierung von Geflüchteten: Unter dem Motto ''Neue Wege in der Altenpflege'' geht die Valckenburgschule Ulm mit ihrem Ausbildungsangebot zum Altenpflegehelfer neue Wege. Hier erhalten Lernende parallel zu ihrer Berufsausbildung eine besondere Sprachförderung. In der Ausbildung ''Zukunft durch Integration in der Pflege'' der Rhein-Mosel-Fachklinik sind auch pflegeorientierte Intensivsprachkurse enthalten."
Welche Schritte müssen gemacht werden, um den Weg in den Pflegeberuf für Geflüchtete zu ebnen? Spielen kulturelle Unterschiede dabei eine große Rolle?
Graalmann: "Zunächst einmal braucht es politisch gesehen eine Regelung zur Bleibeperspektive der Menschen, die sich beruflich integrieren – im Übergang von Asylgesetzgebung und Zuwanderungsrecht. Das ist auch für die Arbeitgeber eine wichtige Voraussetzung. Daneben gibt es auf vielen Ebenen kulturelle Unterschiede, denen eine hohe Bedeutung beigemessen werden muss: In Syrien existiert der Beruf Altenpfleger heute praktisch nicht. Aber sind deshalb alle syrischen Kriegsflüchtlinge ungeeignet? Bei allen Bestrebungen, berufliche Angebote in der Pflege für Geflüchtete zu gestalten, muss der Frage der Bereitschaft und Eignung eine besondere Rolle zukommen. Es soll und darf niemand gedrängt werden, seine berufliche Perspektive in der Pflege zu sehen.
Ich denke es macht Sinn, Angebote zu konzipieren, mit denen Erfahrungen gesammelt werden können, zum Beispiel mit Praktika. So kann festgestellt werden, ob es eine grundsätzliche fachliche Eignung und die persönliche Bereitschaft gibt, sich auf eine berufliche Qualifizierung in der Pflege einzulassen. Eine ganz wichtige Rolle kommt zudem dem Erwerb von Sprachkenntnissen zu. Gerade in einem in einem sehr durch persönliche Zuwendung geprägten Berufsbild wie der Pflege sind gute Verständigungsmöglichkeiten natürlich essentiell. Der Erwerb von Sprachkenntnissen ließe sich aber auch durchaus ausbildungsbegleitend realisieren. Und liegt nicht umgekehrt auch eine Chance darin, dass körperlich eingeschränkte pflegebedürftige Menschen den Migranten beim Lernen der deutschen Sprache helfen? Insbesondere bei Älteren ließen sich so auch die wichtigen sozialen Kontakte erhöhen. Grundvoraussetzung ist selbstverständlich, dass die Einrichtung von Sprachkursen gefördert wird und Praktika von den Einrichtungen selbst auch angeboten werden.
Auch die kultursensible Pflege ist ein wichtiger Aspekt. Wir haben zunehmend Mitbürger mit Migrationshintergrund, die ins Rentenalter kommen und zu den pflegenahen Jahrgängen gehören. Da gibt es andere Anforderungen, z. B. wenn das Waschen des Körpers in bestimmten Kulturkreisen nur unter fließendem Wasser möglich ist. Wir sind darauf noch nicht ausreichend vorbereitet, auch wenn es vereinzelt bereits deutsch-türkische Dienste gibt, die sich auf diese Herausforderungen eingestellt haben. Im Bereich kultursensible Pflege und auch bei der interkulturellen Verständigung muss sich die Pflege noch besser aufstellen."
Sie sind Sprecher des Deutschen Pflegetags - was wird auf dem Deutschen Pflegetag (10.-12.03.16 in Berlin) zum Thema Flüchtlinge passieren?
Graalmann: "Es wird mehrere Diskussionsveranstaltungen zu Migration und Pflege geben, an denen sich das Publikum aktiv beteiligen kann und soll. Experten vergleichen ihre Standpunkte auf einer Podiumsdiskussion mit dem Titel: „Migration als Segen für die Pflege? – Pflege als Mittel zur Integration?”. Es werden Rahmenbedingungen sowie Chancen und Risiken auf politischer -bzw. Verbandsebene beleuchtet. Im Fokus steht dabei zum einen die Pflege als Arbeits- oder Ausbildungsstelle und damit einerseits ihr Beitrag zur Integration und andererseits Migration als Beitrag zur Reduzierung des Fachkräftemangels.
Auch der Praxisbezug steht im Mittelpunkt: Anhand von Beispielen wird gezeigt, welche konkreten Ansätze es in dem bestehenden Rahmen schon gibt. Selbstverständlich ist die gesundheitliche Versorgung der Geflüchteten ein Thema, denn auch dabei spielen Pflegekräfte eine große Rolle. Und wir widmen uns der riesigen Herausforderung, vor die Kommunen gestellt sind. Denn sie stemmen die Herausforderungen oft nur mit großartigem ehrenamtlichen Engagement. Der Deutsche Pflegetag soll ein Diskussionsforum sein, in dem auch die – gerne auch kontroverse – Debattenkultur geführt wird. Für die vielen, sehr komplexen Fragestellungen im Gesundheitswesen und der Pflegebranche gibt es keine einfachen Antworten. Der Deutsche Pflegetag hat den Anspruch, die zentrale Plattform zu sein, gemeinsam mit allen Akteuren nach Lösungen zu suchen."
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Weitere Informationen zum Deutschen Pflegetag, Anmeldung und Details zum diesjährigen Programm unter www.deutscher-pflegetag.de